Predigt Mai 2015

Queergottesdienst am 17.05.2015, St. Johanniskirche Nürnberg

Predigt zu Jesaja 40, 26-31

[Im Anspiel sehen wir zwei Männer, Heinrich Himmel und Erich Erde, die sich darüber unterhalten, was im Leben wichtig ist: Heinrich denkt nur ans Jenseitige, Erich nur ans Diesseitige. Plötzlich halten beide ein, denn „sie hat etwas gezwickt“. Das, was sie in ihrer selbstsicheren Weltdeutung gezwickt hat, ist der Predigttext Jesaja 40, 26-31, das daraufhin verlesen wird]

„Hebt eure Augen auf in die Höhe und seht: Wer hat dies alles Erschaffen? Er, der ihr Heer hervortreten lässt entsprechend seiner Zahl, ruft sie alle mit Namen: Vor ihm, reich an Kraft und stark an Kraft, fehlt kein einziger. Warum sagst du, Jakob, und sprichst, Israel: „Verborgen ist vor Gott mein Weg, mein Recht entgeht meiner Gottheit.“? Erkennst du es nicht? Oder hast du es nicht gehört? Ein ewiger Gott ist der Ewige, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Er wird nicht müde noch matt. Seine Einsicht ist unerforschlich. Er gibt den Müden Kraft und und den Ohnmächtigen mehrt er die Stärke. Junge Leute werden müde und Jugendliche straucheln und stürzen. Aber die auf den Ewigen hoffen gewinnen neue Kraft, dass sie auffahren wie die Adler. Sie laufen und werden nicht matt, sie gehen und werden nicht müde.“

Zwei Menschen lesen den heutigen Predigttext.

Zwei Menschen, denen wir gerade schon begegnet sind. Zwei Menschen, die auf ein und demselben Weg sind: Von hier nach dort, von gestern nach morgen. Zwei Menschen, die zwar miteinander zu gehen scheinen, aber doch eigentlich nur nebeneinander gehen. Die zwar den gleichen Weg abschreiten, aber ihn so unterschiedlich sehen, dass sie keine Berührungspunkte mehr haben.

Sie reden aneinander vorbei, weil ihre Wahrnehmungshorizonte praktisch keine Schnittpunkte haben. Sie erinnern mich an ein Gespräch, dass ich mit einem heterosexuellen Bekannten hatte. Er konnte sich auch nach verschiedenen Erklärungsversuchen nicht vorstellen, warum mir die grundsätzliche Gleichstellung in Eherechtsfragen und die allgemeine Offenheit der staatlichen und kirchlichen Heirat für jedes erwachsene Paar so wichtig waren: Immerhin sei die Ehe doch sowieso ein spießbürgerliches Auslaufmodell und veraltet, und er fände das freie Zusammenleben auch viel romantischer. Dass seine Ablehnung der Ehe ein selbstverständliches Vorhandensein der Möglichkeit zu ihr voraussetzte, und wie viel mehr an solch einer Selbstverständlichkeit hängt, wollte nicht in seinen Kopf.

Heinrich und Erich können ihre Selbstverständlichkeiten genauso wenig ablegen wie dieser Bekannte von mir. Sie sind gefangen in ihnen und können nicht über sie hinaus sehen, und so müssen Heinrich Himmel und Erich Erde nebeneinander herlaufen auf ihrem Weg, statt ihn miteinander zu gehen.

Und das ist vielleicht, warum sie die Schriftlesung so zwickt – sie ist wie Kleidung, die nicht ganz passt, sie ist der Tellerrand, der zu niedrig ist, um nicht über ihn hinausschauen zu können. Jetzt müssen sie handeln: Ducken sie sich und lassen das „über den Tellerand blicken“ sein? Behalten sie ihre Selbstverständlichkeiten, auch wenn sie sich dafür ducken müssen?

Sie ducken sich gerne, wenn das passiert, nehmen nur die Teile der Schrift für sich wichtig, die ihnen gerade praktisch erscheinen. Wir haben gesehen, wie sie einander Bibelzitate an den Kopf geworfen haben. Nicht, um sich von ihnen bereichern zu lassen, nicht, um den andere Gott näher zu bringen, nein. Sie taten es, um ihre eigene Meinung mit göttlichen Worten aufzupolieren und sie besser klingen zu lassen. Verfolgen wir einmal, was passiert, wenn diese beiden Menschen nun den Predigttext lesen.

Erich, der Bodenständige, der sich vermutlich selbst als praktischen Realist beschreiben würde, pickt sich zwei Rosinen aus dem Kuchen auf dem Nachbarteller, und duckt sich dann schnell wieder.

Verborgen ist vor Gott mein Weg, mein Recht entgeht meiner Gottheit.“ Ja, eben! Man muss halt für sich selbst sorgen. Gott ist im Himmel, aber auf Erden braucht man eine Rechtsschutzversicherung. Entweder weiß Gott nicht, wenn es mir schlecht geht, oder er tut nichts – am Ende läuft es darauf hinaus, dass ich mir selbst Sicherheiten schaffen muss, damit es mir gut geht. Selbst ist der Mann!

Die andere Rosine lautet: „Junge Leute werden matt und Jugendliche straucheln und stürzen.“ Auch das ist ihm klar – Unglück macht eben vor keinem Halt, ohne Ansehen von Person und Alter. Man sollte halt nicht erst mit fünfzig eine Pflegeversicherung abschließen.

Heinrich sucht sich andere Rosinen aus, aber auch er duckt sich schnell wieder nachdem er sie gefunden hat, weil den Kuchen als ganzes anzusehen, könnte ihn mit Dingen konfrontieren, die nicht zu seinen Selbstverständlichkeiten passen.

„Hebt eure Augen auf in die Höhe!“ liest er, und freut sich: er weiß, wie das weitergeht: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe. Meine Hilfe kommt von Gott, der Himmel und Erde gemacht hat – ja, schön. Er fühlt sich bestätigt: Gott sorgt für die seinen.

Er liest weiter und springt etwas, und landet bei „Gott wird nicht müde noch matt. Seine Einsicht ist unerforschlich. Er gibt den Müden Kraft, und den Ohnmächtigen mehrt er die Stärke.“ Und, ja, dann, etwas weiter: „Aber die auf den Ewigen hoffen gewinnen neue Kraft, dass sie auffahren wie die Adler. Sie laufen und werden nicht matt, sie gehen und werden nicht müde.“ Und er sorgt sich etwas, denn er wird schon manchmal matt und müde, aber dann denkt er sich, dass es wohl auf das Gebet bezogen sein wird. Und im Gebet wird er ja nie müde. Oder auf den himmlischen Leib, und der wird ja ganz anders als sein jetziger sein.

Und nun stehen beide da mit ihren Rosinen, glücklich mit der Bestätigung ihrer Selbstverständlichkeiten, und ein Großteil des Kuchens wartet immer noch.

Aber was, wenn sie sich aufrichten würden und es riskieren würden, den ganzen Kuchen, das Schriftwort in seiner Gänze, anzusehen? Was, wenn sie über den Horizont ihres Tellerrandes lang genug hinausschauen würden, um wirklich zu sehen?

Zwei Menschen lesen den heutigen Predigttext.

„Hebt eure Augen auf in die Höhe!“

„Verborgen ist vor Gott mein Weg, mein Recht entgeht meiner Gottheit.“

„Gott wird nicht müde noch matt. Seine Einsicht ist unerforschlich. Er gibt den Müden Kraft, und den Ohnmächtigen mehr er die Stärke.“

„Junge Leute werden matt und Jugendliche straucheln und stürzen.“

„Aber die auf den Ewigen hoffen gewinnen neue Kraft, dass sie auffahren wie die Adler. Sie laufen und werden nicht matt, sie gehen und werden nicht müde.“

...versuchen wir es noch einmal.

„Hebt eure Augen auf in die Höhe und seht: Wer hat dies alles Erschaffen? Er, der ihr Heer hervortreten lässt entsprechend seiner Zahl, ruft sie alle mit Namen: Vor ihm, reich an Kraft und stark an Kraft, fehlt kein einziger.“ Hebt eure Augen auf und seht auf die Schöpfung Gottes! Seht, in welche Welt Gott euch gestellt hat! Ignoriert nicht die Welt um euch herum, in die euch Gott gestellt hat, die zu gestalten und bewahren er euch aufgetragen hat. Aber erinnert euch immer daran, wer sie geschaffen hat, und wem ihr letztlich Rechenschaft schuldig seid. Vergesst ihn nicht, denn er wird euch nicht vergessen, keinen einzigen von euch, wohin ihr auch geht, und wenn es bis zu den Enden der Erde ist.

„Warum sagst du, Jakob, und sprichst, Israel: „Verborgen ist vor Gott mein Weg, mein Recht entgeht meiner Gottheit.“? Erkennst du es nicht? Oder hast du es nicht gehört? Ein ewiger Gott ist der Ewige, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Er wird nicht müde noch matt. Seine Einsicht ist unerforschlich.“ Auch wenn es dir scheint, als ob Gott weit weg ist; auch wenn es dir scheint, als ob er sich nicht für dich interessiert oder wegschaut: Er sieht dich. „Vor dem Ewigen, reich und stark an Kraft, fehlt kein einziger“ - Hagar nannte Gott „Du bist der Gott, der mich sieht.“ und das gilt auch für dich.

„Er wird nicht müde noch matt. Seine Einsicht ist unerforschlich. Er gibt den Müden Kraft und und den Ohnmächtigen mehrt er die Stärke. Junge Leute werden müde und Jugendliche straucheln und stürzen. Aber die auf den Ewigen hoffen gewinnen neue Kraft, dass sie auffahren wie die Adler. Sie laufen und werden nicht matt, sie gehen und werden nicht müde.“ Wir Menschen werden müde und matt. Wir können uns aus dieser Ermüdung selbst nicht befreien. Gott wird nicht müde und matt, und von seiner Stärke können wir gerade dann profitieren, wenn wir selbst straucheln oder stürzen – oder, um aus dem Bild zu treten: Wenn das Leben uns Probleme in den Weg legt, die unsere Kräfte zu erschöpfen drohen, können wir in Gebet und Vertrauen an Gott Kraft gewinnen.

Auch, wenn sich das Problem selbst dadurch nicht lösen mag, wird Gott uns doch helfen, es zu tragen. Oder er wird uns tragen, während wir an unserem Problem tragen. Gott ist bei uns und mit uns, aber ist bei und mit uns in unserer Welt, in unseren Lebensvollzügen. Nur wenn wir nicht vergessen, wo wir jetzt, gerade, im Augenblick sind, nur dann können wir seine Stütze und Hoffnung wirklich begreifen.

Wenn wir ermüden an dieser Welt, dann verleiht uns unsere Hoffnung auf Gott Flügel. Aber um diese Flügel zu erlangen, müssen wir uns erst ganz und gar auf diese Welt, in die er uns gestellt hat, einlassen, so dass wir auf ihn zurückgeworfen werden können.

Zwei Menschen lesen den heutigen Predigttext.

Wenn sie über ihren Tellerrand schauen und sich auf den Text und einander einlassen, wenn sie miteinander der ganzen Kuchen betrachten, dann wird er sie sättigen, dann wird er sie bereichern und ihnen so viel mehr geben, als ihre einzelnen, zusammenhanglosen Rosinen es je können.

Jesus hat gesagt, dass er mitten unter uns ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Als Gemeinde können wir mehr als als einzelne Christen: Wir können mehr vom Kuchen sehen: Mehr Blickwinkel, mehr Perspektiven. Aber wir können auch einander immer wieder dazu bringen, den Kuchen, die heilige Schrift, aufs neue anzusehen. Wir können einander dazu bringen, uns nicht vor dem großen Ganzen zu scheuen. Wir brauchen einander dazu. Damit wir nicht auf einzelne Sätze und Phrasen zurückgeworfen werden und in unserer eigenen kleine Welt versinken, in unseren Selbstverständlichkeiten.

 Damit wir uns immer wieder neu von Gottes Wort zwicken und zwacken lassen. Damit wir ihn immer wieder in unserem Leben sehen, und aus ihm Kraft schöpfen können – in unserem Leben, im Versuch, weder Himmel noch Erde je ganz aus dem Blick zu verlieren.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen.