Predigt September 2010

Anspielpredigt für den Queergottesdienst vom 19. September 2010

Thema Nächstenliebe

M.:
Du Chr. mich beschäftigt da etwas, im letzten Sonntagsgottesdienst war die Rede davon, dass das Leben Sinn machen soll, von einem erfüllten und lohnenden Dasein hat der Pfarrer gesprochen. Was macht eigentlich dein Leben lebenswert? Welches Ziel verfolgst Du in deinem Leben?

Chr.:
Ja als schwuler Mann kann ich Dir nur antworten: Ganze Männer und Kerle – gut aussehend versteht sich. Also mal ganz unter uns (es ist ja sonst keiner da): Wenn es so auf das Wochenende zugeht, also spätestens am Dienstag, und ich für das Wochenende noch keine Verabredung habe, dann werde ich ganz unruhig und hibbelig. Dann fühle ich mich wahnsinnig gestresst. Das gleiche empfinde ich, wenn mein Profil bei gayromeo länger nicht mehr angeklickt wurde. Dann finde ich mein Leben ziemlich langweilig und öde.

M.:
Also der Pfarrer hat das irgendwie anders gemeint.

Chr.:
Echt - hm – jetzt wird es ja wirklich philosophisch;
warum eigentlich diese ganze Grübelei und Sinnsuche?

M.:
Wenn mein Leben keinen Sinn hat, keine lohnende Aufgabe, kein Ziel, wozu soll ich dann überhaupt noch Rücksicht nehmen, wozu soll ich mich um Gebote und Gesetze kümmern? Wenn mir mein Leben nichts mehr bedeutet, meine Zukunft nicht, wenn mir einfach alles egal ist – dann kann ich mich doch über gesetzliche Bestimmungen, einfach hinweg setzen, bei der Steuererklärung mogeln, um den größten Profit herauszuholen und alle Skrupel über Bord werfen. Menschen einfach benutzten und Leben nach dem Motto: Was gehen mich die anderen an … Viel zu viele Menschen wissen nicht wozu sie auf dieser Welt sind; viel zu viele die über vieles einfach hinweg gehen – die keine Werte mehr kennen, die perspektivlos in den Tag hinein leben – viel zu viele, die keinen Glauben mehr in sich haben und vor allem keine Hoffnung!

Chr.:
Irgendwie bin ich jetzt verblüfft und erstaunt.

M.:
Nun ich gehe einmal davon aus, dass Du und die Queergemeinde an diesem Punkt grundlegend anders denken. Uns ist es doch nicht egal, was in dieser Welt geschieht, wie Menschen miteinander umgehen, was da existiert an Lug und Betrug, an Gewalt und Brutalität. Ich gehe doch sehr davon aus, dass wir alle versuchen unseren Teil zu einer gerechteren Welt und besseren Verhältnissen auf dieser Erde beizutragen. Gleichzeitig beschäftigt mich die Frage: Woher komme ich? – wozu bin ich da?- und wohin letztendlich meine Lebensreise mich führen soll? Was kann und was soll ich hier in dieser Welt von Gott her tun?

Chr.:
Mensch, jetzt fällt mir so ne biblische Geschichte ein –
aus meiner Konfirmandenzeit… äh –
das Gleichnis vom barmherzigen Samariter…
aus dem Lukasevangelium…
Um diese Fragen ging es damals,
als Jesus von einem Schriftgelehrten gefragt –
und auf die Probe gestellt wurde.
Ich hab es noch ganz im Ohr: Jesus gab die Frage einfach zurück:
Was steht denn im Gesetz geschrieben? –

M.:
Ja, der Schriftgelehrte war nicht verlegen und antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten lieben, wie dich selbst. Jesus lobte ihn für die Antwort und fügte hinzu: Geh hin – und tue desgleichen. Ja dann hat das Leben Sinn, Orientierung und Erfüllung.

Chr.:
Alles klar – danke, ich habe verstanden.
Da brauchen wir ja gar keine Predigt mehr und
wir können gleich das nächste Lied singen...
und vor allem wir kommen früher in den „Dampfnudelbäck“ –
ich hab doch so einen Hunger.

M. (ins Wort fallend):
Wenn nicht der Schriftgelehrte sich verteidigen und rechtfertigen wollte. Er fühlte sich ins falsche Licht gerückt und kritisiert. Hören wir die Verse aus dem 10. Kapitel des Lukas-Evangeliums, die Verse 29 bis 37:

 

Predigttext:

Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mann, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und viel unter die Räuber; und die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah - ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm; goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm; hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sagte: Pflege ihn und, wenn Du mehr ausgibst, will ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen, dem der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin tue desgleichen!

„Wer ist denn nun mein Nächster?“

Liebe Queergemeinde – Mit dieser Frage will sich der Schriftgelehrte aus der Affäre ziehen. „Wer ist denn nun meine Nächster“: damit versuchen auch wir, abzulenken und abzuwehren. Viel zu viele Nächste gibt es! Da könnte ja jeder kommen! Wir wohnen dicht auf dicht hier in der Metropolregion und darüber hinaus. Sicher wir kennen manche, ja sogar viele, die uns leid tun, die einsam sind, deren Seele regelrecht verhungert. Nicht zu vergessen die vielen Hungernden auf der weiten Welt, die Opfer von der Naturkatastrophe in Pakistan oder die Bettler in der Nürnberger Innenstadt.

Aber wer ist denn nun mein Nächster?

Der Obdachlose in Afrika, mein Arbeitskollege, mit dem ich das Büro teile und den ich nun wirklich nicht ausstehen kann? Wer so denkt und fragt, der will die Anfrage von sich selbst wegschieben, der versucht abzulenken und fühlt sich bei seinem schlechten Gewissen gepackt. Ich kann doch wirklich nicht jedem helfen, selbst beim besten Willen nicht! Ich habe schon genug mit mir zu tun.

Ob Jesus das erwartet und überzeugt hätte? Jesus spürt und durchschaut, wie sich der Schriftgelehrte aus seiner Verantwortung stehlen will, wie er abwehrt mit den Worten „Das kann ich doch auch nicht noch leisten! Dafür sind andere zuständig! – Die anderen – da haben wir es ja: die anderen; aber ich doch nicht. Jesus hält dem Schriftgelehrten und auch uns den nötigen Spiegel vor; er dreht die Frage um. Nicht „ wer ist denn nun mein Nächster?“ – lautet seine Frage – nein, sondern „ Wem eigentlich bist Du, zum Nächsten geworden?“ Also aufgepasst: Nicht der unter die Räuber Gefallene, nicht der Ausgeplünderte ist der Nächste. Nein – sondern der Samariter ist der Nächste! Derjenige, der hilft, der die Ärmel hochkrempelt, der zupackt und das Notwendige tut; der ist der Nächste.

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bekommt auf einmal eine ganz andere Perspektive. Man meint es zu kennen und kennt es eben doch nicht. Aus der Eingangsfrage „Wer ist denn nun mein Nächster?“ wird vielmehr: „ Wem bitteschön bist Du, bin ich zum Nächsten geworden?

Nächster wird der, der hilft. Der Priester und der Levit, aus dem Gleichnis, die gingen vorüber – auf gut deutsch – ein klarer Fall von unterlassener Hilfeleistung. Den stummen Hilferuf haben sie überhört, sie sind vorübergegangen.

Ausgerechnet ein Samariter; ausgerechnet einer aus der Gegend von Samaria, der Volksstamm, der bei den Juden sehr verhasst ist. Ausgerechnet der –

Warum? Ein kleines Sätzchen im Gleichnis gibt die Antwort: „Als er ihn sah, jammerte es ihn…“ aus Erbarmen, von Mitleid gerührt, aus purer Mitmenschlichkeit heraus tut der Samariter einfach das Erforderliche: Er wäscht die Wunden aus, verbindet sie, löst die Transportfrage und bringt den Verletzten dorthin, wo er gepflegt werden kann, finanziert auch noch den weiteren Aufenthalt und verspricht, wiederzukommen und nachzusehen …

Bei all dem, was der Samariter tut: Jesus lässt ihn nicht zum Übermenschen werden, der seine Geschäfte stehen und liegen lässt, der alles andere aufgibt und sich selbst über die Maßen aufopfert und nur noch für den Kranken da ist. Nein – Jesus lässt den Samariter weiterziehen. Menschlichkeit zeigt sich nicht im Übermenschlichen, sondern vielmehr in dem, was menschenmöglich ist und wozu die Kräfte, Gaben und Talente eines jeden Einzelnen reichen.

Der Samariter stellt keine Fragen, nennt keine Bedingungen, er tut schlicht und ergreifend das, was der klare Menschenverstand ihm sagt. Er bleibt stehen, weil er nicht weitergehen kann. Er hilft, weil er helfen muss. Er weiß nicht, wie er zum Nächsten wird – aber er spürt und weiß, dass er jetzt am „dransten“ ist. Als Fremder, Verhasster und Ausgegrenzter verbindet er dem Opfer die Wunden und bezahlt auch noch dafür – Er fragt nicht bist du ein Jude oder Palästinenser, bist du Homo oder Hetero – genauso wenig fragt er „Wie kannst du mir das wieder gutmachen? Was zahlst du mir dafür, wenn ich dir helfe?“ Nein er hilft ganz einfach. Helfen ist Ehrensache!

Im Grunde unseres Herzens wissen wir sehr wohl, wer mein Nächster ist, wem ich zum Nächsten werden kann, was ich also zu tun habe. Das ist uns allen glasklar bewusst. Unklar ist nur, wie ich mich verhalte, wie ich mich entscheide, was ich tun werde!

Nur, warum geschieht das sooft eben nicht? Warum muss es erst Gesetze und Rechtsnormen geben, die die konkrete Hilfeleistung einfordern? Paulus schreibt im Römerbrief: “Das Gute, das ich tun soll weiß ich wohl“ und weiter schreibt er „aber ich tue es nicht“.

Wo also liegt das Problem? Es liegt in uns Menschen selbst. Jeder der etwas Gutes für andere tut, tut gleichfalls etwas Gutes für sich selbst. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Wer das allerdings nicht tut, der schädigt sich wohl selbst. Jeder, der etwas Gutes für andere tut, tut gleichfalls etwas Gutes für sich selbst! Ihr schaut mich fragend an, ich sehe Zweifel in Euren Augen. –

Wenn ich einem Menschen die Türe aufhalte und ihn freundlich dabei anschaue, fällt dann nicht oft genug ein lächelndes Gesicht auf mich selbst zurück.

Wenn ich einem anderen helfe, einfach so, weil ich ja nun einmal helfen kann:

was passiert dann eigentlich? – Ich antworte jetzt nicht, sondern rufe Euch zu:

Probiert es aus, versucht es einmal!

Du sollst Gott lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst …

Wem kann ich nun zum Nächsten werden? Wem in meiner Umgebung soll ich „unter die Arme greifen“, wem Mut und Hoffnung zusprechen, wem neue Lebensfreude wecken? Vielleicht entdeckst Du den stummen Hilferuf eines Mitmenschen, des Banknachbarn neben Dir, der vielleicht noch mitten in seinem coming-out steckt und dringend Zuspruch und Hilfe bräuchte. Vielleicht nimmst Du zum ersten Mal richtig wahr, wie einsam und verlassen, wie enttäuscht und traurig ein Mitmensch in deiner Nähe lebt.

Also probieren wir es doch aus und haben den Mut, auf den Nächsten zu zugehen. Dabei dürfen wir uns nicht enttäuschen und entmutigen lassen, wenn das Gegenüber nicht gleich so reagiert, wie wir es uns vorstellen und wünschen. Versuchen wir den Nächsten, so wie er ist, zu lieben, indem wir hingehen und zum Nächsten werden. Die Gaben und die Kraft dazu erhalten wir beim Hingehen, denn Gottes Liebe ist mit uns unterwegs. Dadurch, dass wir hingehen, helfen, und zum Nächsten werden: dadurch lieben wir Gott. Dadurch erfährt unser Leben wahre Verantwortung, Tiefgang, Sinn und Ziel!

Dann liebe Freundinnen und Freunde werden wir spüren, dass sich in unserem Herzen ein Friede ausbreitet, ein Friede, der größer und höher ist, als all unsere Vernunft und unser menschliches Denken; ein Friede, der Herzen und Sinne bewahrt in Jesus Christus.

Amen